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Wir schreiben das Jahr 3600 vor Christi Geburt. In einem unbekannten Land, auf einem ebenfalls unbekannten Kontinent, der auf einem Planeten liegt, welcher unserer Erde sehr stark gleicht, wird die Stadt Gelsenkirchen gegründet; umschlossen von dem Fluss Emscher und unweit einer idyllischen Oase. Das Volk der Kumpel blickt hoffnungsfroh in eine noch ungewisse Zukunft. Die Jahrzehnte und Jahrhunderte fliegen nur so dahin … die Kumpel entdecken bald die Schrift, die Bronzeverarbeitung und die Reiterei. Ihre Rosse preschen umher und erforschen das wilde Umland. Als zweite Stadt wird 2500 v. Chr. Ückendorf gegründet, in dichter Nachbarschaft zu zwei weiteren Zivilisationen, mit denen die Kumpel friedlich Handel treiben: Das Volk der Amerikaner und das Volk der Zulu. Welch verheißungsvolle Zukunft; der unsterbliche Gründer der Zivilisation Heinz Otto blickt verträumt aus seinem Palast, der vor einem heiligen Felsen errichtet wurde, lässt seine Blicke umherschweifen, und was er sieht, ist gut und ihm wohlgefällig

So ähnlich könnte wohl eine Partie des DOS-Klassikers Civilization von MicroProse beginnen, bzw. sie hat sogar begonnen, denn im Dezember 2024 habe ich genau diese Partie gestartet, in Reminiszenz an eine Zeit, in der ich sehr viel Zeit in dieses unglaubliche Spiel versenkt habe. Damals noch auf dem Atari ST: wie es sich damals gehörte, tauschte man die Raubkopie auf dem Schulhof in Form einer Diskette. Ins Hausaufgabenheft wurde eine Liste zur Umgehung des Sicherheitscodes mit dem Bleistift abgeschrieben. Und dann ging es am heimischen Rechner los: Man spielte Weltgeschichte im Kinderzimmer, ließ die Zivilisationen der Römer, der Franzosen, der Babylonier auferstehen, und versuchte sie, zum Erfolg zu führen.

Civilization I
Civilization I: Historisch korrekt wurde 3920 v. Chr. Gelsenkirchen gegründet

Von der Bronzezeit bis zur Raumfahrt

Das war nicht nur faszinierend – es war auch strategisch höchst anspruchsvoll. Denn Civilization, 1991 programmiert von den zwei Legenden Sid Meier und Bruce Shelley, war spürbar anders als vergleichbare Spiele jener Ära. Allein die Prämisse, ein Volk durch die Fährnisse der Zeit zu geleiten – von der Bronzezeit bis zum Raumfahrtzeitalter –, war schlichtweg faszinierend. Aber auch die Spielmechanismen bezüglich Wirtschaft, Kriegsführung und Diplomatie griffen wie die Zahnräder eines Uhrwerks raffiniert ineinander. Jede Partie fühlte sich anders an, durch eine sehr überzeugende Generierung der Landmasse, auf der man seine Zivilisation gründete.

Schön sahen die Karten obendrein aus: Eine bis heute wunderschöne Pixelgrafik mit Tiles in satten Grüntönen (fruchtbares Land), schroffen Grautönen (Berge) und gelben Dünenschwingungen (Wüste), die sogar an einigen Stellen dezent animiert waren, gefielen dem Auge. So war ein wesentlicher Teil des Spielspaßes, die im „Fog of War“ verborgene gesamte Weltkarte peu à peu aufzudecken. Das gelang oft erst in der Neuzeit, kurz vor Spielende. Denn die Partien hatten eine strikte Zeitgrenze: Bis 2020 nach Christus musste man seine Zivilisation vor der Vernichtung bewahren – oder zum Sieg führen. Entweder durch Auslöschung aller anderen Zivilisationen (welch hässliche genozidale Prämisse), oder aber, indem man erfolgreich ein Raumschiff zu dem fernen Planeten Alpha Centauri entsenden konnte. Im Weltraum ging dann die Geschichte der Zivilisation weiter; es gab sogar einen entsprechenden Nachfolger (Sid Meier’s Alpha Centauri aus dem Jahr 1999).

Städte und Staatsformen

Aber zurück zu „Civilization 1“, dessen Faszination sich vor allem aus der Brettspielatmosphäre speiste. Jede Stadt, die gegründet wurde, konnte neben dem Hauptfeld 21 der sie umgebenden Tiles verwalten, die Rohstoffe verwenden, Handelspunkte generieren und Produktionsschilde erzeugen. Letztere dienten zum Bau von Gebäude und Einheiten, die Handelspunkte wurden je nach Einstellung auf Geldeinnahmen, Luxusgüter oder wissenschaftliche Errungenschaften verteilt. Da sich später die Staatsformen wechseln ließen – vom Despotismus und der Monarchie bis zur Republik, dem Kommunismus und der Demokratie – ergaben sich neue Kombinationen und Möglichkeiten, diese Erträge zu optimieren. Auch hatten solche Regierungsformen Einfluss auf Spieloptionen – z. B. ob und wie Kriege erklärt werden konnten oder wie viele Erträge die Tiles erwirtschaftetet.

Die unglaubliche Vielfalt dieser Optionen erschloss sich erst im Lauf der Zeit – und durch das emsige Studieren der „Civilopedia“, einer integrierten Bibliothek, die nicht nur die Spielkonzepte erklärte, sondern zugleich auch in kompakten Texten die Geschichte von Technologieentwicklungen oder den zu errichtenden Gebäuden erzählten. Darunter auch die Weltwunder, die man bauen konnte. Das führte oft zu skurrilen Situationen, wenn man etwa die Pyramiden von Gelsenkirchen oder das Shakespeare-Theater von Ückendorf errichten konnte.

Civilization I
Civilization I: Mit Gelsenkirchen und Ückendorf versuchen wir, die Welt zu erobern

Inspirationen

Bei all diesen Mechanismen hatten sich Sid Meier und Bruce Shelley übrigens tatsächlich von einem Brettspiel inspirieren lassen: ‘Civilization‘ von F. G. Tresham, 1980 erstmal erschienen bei Hartland Trefoil in Northampton, England. Ursprünglich hatten Meier und Shelley diesen Klassiker auf dem Computer umsetzen wollen, aber die Rechte waren bereits vergeben (es wurde ebenfalls für MS-DOS umgesetzt). Viele der dort entwickelten Mechanismen finden sich in „Sid Meier Civilization“ wieder.

Civilization Brettspiel
Zur Inspiration diente ein Brettspiel

Allerdings war das Tresham-Spiel auf die Bronzezeit und auf Mesopotamien beschränkt. Die MicroProse-Variante hingegen nahm die gesamte Menschheitsgeschichte in den Blick: Antike, Mittelalter, Neuzeit und gar das futuristische Raumfahrtzeitalter.

Mit dem Lauf der Jahre veränderten sich die Truppeneinheiten, die man über die Landkarte entsandte, um seine Zivilisation zu verteidigen bzw. auszuweiten: Berittene Einheiten wichen dem Panzer, Dreisegler auf den Ozeanen bald furchteinflößenden Schlachtschiffen. Auch die Atombombe fehlte nicht – und konnte zum Ende hin ganze Partien drehen. Ganze Städte konnten mit einem Atomschlag ausgelöscht werden; zurück blieben verseuchte Landschaften, die man zwar theoretisch durch Siedlereinheiten „entgiften“ konnte, letztlich aber zu einer globalen Erwärmung führten. Ebenso wie eine zu starke Verschmutzung durch den Bau von Fabriken und Kohlekraftwerken sowie die Überbevölkerung.

Vernichtung und andere Siegbedingungen

Ein wichtiger Aspekt des Spiels war – wie wohl in den meisten Strategiespielen – die Kriegsführung. Die viereckigen Einheiten ließen sich in Stacks stapeln, was allerdings keinen strategischen Vorteil brachte: Nur eine Einheit, nämlich jene mit dem höchsten Verteidigungswert, widerstand einem Angriff feindlicher Einheiten. Wenn man verlor, war der gesamte Stack vernichtet. Eine sehr radikale, aber auch geniale Mechanik, durch die man sich genau überlegen musste, wo man welche Einheiten postierte oder ob man sie lieber in Festungen versteckte (denn dort war die Stack-Regelung aufgehoben).

Civilization Cover
Civilization Cover; Foto: eXoDOS Sammlung

Ebenfalls genial: Die Mechanik der ZOC (Zone of Control). War man nicht im Krieg mit einer anderen Zivilisation, konnte man sich Einheiten dieser Nachbarn nur indirekt näheren, nicht aber frontal. So entstanden Grenzverläufe, die nur von zwei Einheiten umgangen werden konnten (Siedler und Diplomaten). Und da Einheiten auch die Erträge eines Tiles der eigenen Stadt zuschlagen konnten (bzw. sie für den Konkurrenten blockierten), griffen hier militärische, diplomatische und ökonomische Entscheidungen clever ineinander.

Fesselnde Nachfolger

Civilization entwickelte sich zu einem Welterfolg. Es war zwar nicht das erste sogenannte 4X-Spiel (eXplore, eXpand, eXploit, eXterminate), aber ohne Frage das prägendste. Bis heute fesseln seine Nachfolger unzählige Menschen an den Bildschirm. Im Februar 2025 soll der siebte Teil der Spielereihe erscheinen.

Sid Meier's Civilization II
Sid Meier’s Civilization II; Screenshot: mobygames.com

Der Verfasser dieser Zeilen hat – seit dem historischen Diskettentausch auf dem Schulhof – jede Version gespielt: von den konsequenten Weiterentwicklungen aus dem Jahr 1996 (Civilization 2) und 2021 (Civilization 3) über die wohl üppigste und erfolgreichste Fassung auf dem Jahr 2005, die sich von der Stack-Regelung verabschiedete, bis zu den mutigen Fassungen Civilization 5 (2014) und Civilization 6 (2017).

Civilization Diskette
Civilization Diskette; Foto: eXoDOS Sammlung

Natürlich sind die Vorlieben jedes Spielers anders; ich fand gerade den fünften Teil unglaublich stark, den vierten Teil ebenfalls genial, den sechsten wiederum zu überladen und vertändelt. Aber bis heute geht in meinen Augen nichts über Civilization 1. Es gibt immer wieder Projekte, die die Urversion nachprogrammieren wollen – um auf dieser Grundlage dann behutsame Verbesserungen vorzunehmen, Fehler- und Bug-Dezimierung zu erreichen und Moddingtools einzuführen. Hoffentlich wird dies irgendwann Realität werden.

Bis dahin beschränke ich mich darauf, mit der DOS-Box den zeitlosen Klassiker zu spielen. Es dürfte neben Schach, Crusader Kings 1 und 2 sowie Europa Universalis 2 das Spiel sein, welches ich am meisten, am begeistertsten und am liebsten gespielt habe. Nicht nur aufgrund seiner genialen Prämisse, seiner Spielmechanik und der Schönheit seiner Pixelgrafik – nein, auch deshalb, weil gerade durch die Reduktion genügend Freiraum besteht, um sich beim Spielen seine eigenen Geschichten zu der Partie auszudenken. Ich habe sogar einen längeren sog. „After Action Report“ (AAA) in einem Strategieforum dazu verfasst: Civlization als Tool des kreativen Erzählens. Dies zeigt, dass Computerspiele eben nicht nur ein Zeitvertreib ist, sondern auch eine Kulturtechnik, die man mit anderen teilen kann.

Das Ende der Kumpel

Was die glorreiche Zivilisation der Kumpel angeht, war ihr leider kein langes Leben beschieden: Im Jahr 1800 v. Ch. tauchte unverhofft ein neuer Gegner vor den Toren Gelsenkirchens und Ückendorfs auf – die aggressiven Inder. Diese verfügten über mehrere Streitwägen, brachen in Kürze eine panisch geschlossene Friedensvereinbarung und radierten beide Städte aus. Mit Stumpf und Stiel. Der Zivilisationsgründer Heinz Otto wurde vom Dach des gerade erst fertiggestellten Leuchtturms von Gelsenkirchen geschmissen (obwohl dieses gar nicht am Meer lag, sondern an der Emscher). Und das Volk der Kumpel geriet in Vergessenheit … wie so viele andere Zivilisationen vor und nach ihm. In unserer realen Geschichte wie auch in Sid Meiers „Civilization 1“.

Sid Meier’s Civilization I
Hier regierte Kumpel

Weiterführende Links

Nächster Halt: Weltherrschaft
Sid Meier’s Colonization
Command & Conquer: Der Tiberiumkonflikt
Battle Chess
Grandmaster Chess

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