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Warum Retro?

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warum retro
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Seit einigen Jahren boomt der Gaming-Retro-Markt und derzeit ist kein Ende in Sicht. Das vielfältige Hobby fasziniert Alt und Jung, aber warum ist dies so? Ein paar eigene Gedanken.

Ich bin Jahrgang 1979. Mein erster Computer war ein 80286er mit MS-DOS. Mit Turbo hatte die Kiste 16 MHz, ohne 12. Nach dem booten war der Bildschirm schwarz und mich erwartete ein C:\> mit einem blinkenden Cursor. Freunde hatten C64, C128, Amiga. Einer besaß sogar einen 386er.

In meinen Zwanzigern konnte ich nicht verstehen, wenn von den guten alten Zeiten die Rede war. Mittlerweile stieg ich auf Windows um, was mir wahrlich nicht leicht fiel, aber damals war neu immer besser. Nicht die Hardware oder das Betriebssystem waren für mich aufregend, nicht einmal die Spiele, sondern das Internet. Ungeahnte Möglichkeiten täuschten darüber hinweg, dass wir längst etwas verloren hatten. Ungefähr zehn Jahre später, mit Anfang dreißig, dämmerte mir, dass ich in einer technisierten Welt lebte, in der ich zur Technik keine Emotion mehr entwickelte.

Hardware mit Gefühlen

Mein erstes digitales Spiel war ein LCD Game. Donkey Kong eroberte mein Herz. Später Space Invaders auf einer Armbanduhr. Nachbarskinder in der Straße hatten einen Amiga 1000. Wenn ich heute versuche, die Faszination von Retro zu erklären, ist es genau dieser Computer, den ich heranziehe. Aber kurz zurück in die Gegenwart.

Mein in die Jahre gekommener Laptop liegt im Schrank. Vor vierzehn Monaten holte ich mir für viel Geld einen Desktop-PC. Sitze täglich unzählige Stunden davor, aber für mich ist es irgendein Gerät, wie mein Smartphone. Ich habe keine Ahnung, wer dafür verantwortlich war. Wer hat die Hardware erdacht?

Der A1000 sah für seine Zeit langweilig aus, weil Commodore die Firma Amiga kaufte, das Gehäusedesign verhunzte, um es 1985 zu veröffentlichen. Die Besonderheit zeigt sich im Innern, was folgendes Wikipedia-Zitat beschreibt: „Auf der Innenseite des Gehäuses sind die Unterschriften der Amiga-Designer graviert (ähnlich wie beim Macintosh); einschließlich der von Jay Miner und dem Pfotenabdruck seines Hundes Mitchy.“

Hinter den Computern steckten Persönlichkeiten. Genies ihrer Zeit, die eine Vision erarbeiteten, wie die Zukunft aussehen könnten. Jay Miner, der bereits den Atari-400 und -800 entwickelte, war einer davon. Unzählige Geschichten ranken sich um ihn und seinen Hund. Und der Amiga ist keine Ausnahme. Über den C64 oder Atari ST gibt es heutzutage zahlreiche Bücher, die belegen, dass außergewöhnliche Menschen eine einzigartige Hardware erschufen. Heute kennt man, wenn überhaupt, nur noch den Sprecher der Marketingabteilung.

Persönliche Spiele

Natürlich wusste ich das als Kind nicht, aber spürte es. Mir war bewusst, dass vor mir ein magischer Kasten stand. Wenn ich mich lange genug damit befasste, konnte ich das System verstehen, beherrschen und Bill Gates hassen. Das war damals normal.

Es gab einen viel persönlicheren Bezug zwischen Erfinder, dem Produkt und den Konsumenten. Besonders bei Spielen. Wer kennt heute die aktuellen Entwickler von FIFA, Call of Duty und sonstigen Titeln? Niemand, weil die Industrie das nicht will. Wenn es nach Publishern wie Electronic Arts oder Ubisoft geht, sind Spieleentwickler nichts weiter als Legehennen, die niemals das Tageslicht sehen. Nahezu alles Persönliche wird ausgerottet. Es gibt Abteilungen, die ausschließlich den Massengeschmack eruieren. Gamedesigner, Grafiker, Musiker und Programmierer machen nichts anderes als Vorgaben abzuarbeiten. Irgendwelche Umfragen ergaben, dass Fans wollen, das neue Assassin’s Creed solle mehr Pfützen beinhalten. Also wird das gemacht.

Persönliche Visionen mit Risiko gibt es nur im Indie-Markt. Hier wird, aus vielerlei Gründen, die Grafik gerne auf Retro getrimmt, auch wenn es in den seltensten Fällen etwas mit alten Zeiten zu tun hat. Ab und zu erfährt man, wer hinter dem Spiel steckt. Man sieht Teamfotos, liest die Geschichten dahinter. Besonders Hobbyspieleentwickler teilen sich gerne mit, weil es ihnen zuweilen egal ist, ob es am Ende zehn oder tausend Leute spielen. Bei einem AAA-Spiel wäre das unverzeihlich. Ein zu früh veröffentlichter Screenshot und die Popularität sinkt um 20%, hat die Marketingabteilung errechnet.

Shigeru Miyamoto, Sid Meier, John Carmack, Peter Molyneux, Richard Garriott. Die meisten Spieler kennen heute mindestens drei dieser Namen. Das waren Entwickler, die etwas bewegten und damit Kinder- und Jugendzimmer veränderten. Und die als Gamedesigner mitunter fragwürdige Entscheidungen trafen, teilweise auch mal scheiterten, wie Garriott oder Molyneux. Aber das gehörte dazu. Wenn sich Richard als „Lord British“ selbst in die Spiele programmierte, war es großartig. Heute unvorstellbar.

AAA-Fluch

Mein letzter großer Titel war DOOM Eternal. Von der Presse gefeiert sei es wie das alte Doom-Gefühl. Ich hasse mich heute für jeden Euro, den ich in das Spiel steckte. Nach zweieinhalb Stunden gab ich entnervt auf. Das soll Doom sein? Für mich ist es Super Mario 3D in ganz schlecht.

Die alten Spiele, die ich liebte, zeichneten sich dadurch aus, dass ich sofort loslegen konnte und mich nichts im Spielfluss unterbrach, bis ich durch war. Oder keine Lust mehr hatte. Oder an einem Gegner scheiterte. Heute unterbricht DOOM Eternal alle 30 Sekunden den Spielfluss, weil mir das Game ein weiteres überflüssiges Feature erklären muss. Zwischen diesen Ausführungen kommen Zwischensequenzen, Ladebalken und hin und wieder sogar ein Spiel. Ich hätte es geliebt, wenn man es entschlackt hätte. Ein Mann, eine Waffe, tausend Feinde. DAS ist ein Spiel.

Ähnlich Mortal Kombat 11. Beim neunten Teil fand ich den Karrieremodus gut. Im aktuellen Ableger brach ich es ab, weil es kein Spiel mehr ist. Es ist eine 3D-Animation, in der ich alle zehn Minuten für wenige Sekunden kämpfen darf. Früher nannte man es interaktiven Film – und war damals schon Scheiße.

Was mich besonders nervt, ist die Flut von sinnlosen Features. Ich mag durchaus komplexere Spiele, aber wozu brauche ich bei einem Shooter gefühlt 30 Tasten? Warum muss ich in der Ego-Perspektive in Doom an Wänden entlang klettern? Weil das modern ist? Okay, die Verkaufszahlen geben den Studios Recht, aber es ist nicht mehr meine Welt. Eines der wenigen nicht Indie-Titeln, welches mir das alte Spielgefühl gab, war Portal. Ein Charakter, eine Waffe, ein großartiges Gamedesign mit grandiosen Leveln. Und das Ende der beiden Teile war jeweils unvergleichlich.

The Ultimate DOOM

Retro-Industrie

Über die Jahre bildete sich für den Retro-Nerd eine ganze Industrie. Am Kiosk gibt es Zeitschriften, die einem die gute alte Zeit erklären. Eine Zeit, in der man ein Spiel kaufte, installierte oder in die Konsole steckte. Und es funktionierte. Fern ab von täglichen Patches und Abstürzen. Es gibt zahlreiche Emulatoren, nachgebaute Hardware, einen riesigen Markt für gebrauchte Spiele, Konsolen, Computer. Eine Fülle von YouTube-Videos über Commodore, Atari, Sega, Nintendo und wie sie alle heißen. Bücher, die in epischer Breite persönliche Erfahrungen jener Zeit wiedergeben.

Man kann mittlerweile jeden Mist kaufen. Kleidung, Tassen, Uhren, Bettwäsche, was auch immer. Retro ist massenkompatibel. Heute behaupten Leute, das erste Wolfenstein 3D damals gespielt zu haben, die zu dieser Zeit nicht einmal lebten. Aber es ist schön zu sehen, dass diese Titel, die einzigartigen Kunstwerke, nicht auf dem digitalen Schrott landen. Das sich Menschen immer noch mit der Technik der 1980er und 1990er befassen.

Aus kapitalistischer Sicht werden Gefühle verkauft, aber es ist viel mehr. Es geht um die Konservierung einer Kultur und deren Subkulturen. Um die Bewahrung eines Erbes. Darum, nicht zu vergessen, wie es begann und wie die Meilensteine aussahen. Teilweise um eine Zeit, als die Entwickler das Große und Ganze verstanden, weil sie die Schaltpläne der Komponenten selbst zeichneten und jede Leiterbahn mit Vor- und Nachnamen kannten. Eine Zeit, als Ingenieure bei Amiga anfingen, weil sie beim Vorstellungsgespräch das Hardwaredesign sahen und begeistert waren. Eine Zeit, als die Leute bei Commodore in der Firma übernachteten, um die Hardware fertig zu stellen. Nicht, weil sie es mussten, sondern weil sie es wollten. Weil sie ein Teil von etwas Großartigem waren.

Wolfenstein 3D

Retro-Fluch

Es ist nicht nur Segen. Früher war nicht alles besser. Man kaufte ein Spiel für 100 DM und nach zehn Minuten scheiterte man an einem Zwischenboss, weil einige Entwickler der Meinung waren, sie müssten Spiele wie für Arcade-Automaten entwickeln, bei denen es darum ging, Münzen einzuwerfen. Das war extrem frustrierend.

Commander Keen gilt heute als Kult, aber genau genommen war es das FIFA Anfang der 1990er. Teil 1 erschein 1990, Teil 6 1992. Aus heutiger Sicht ist erst der vierte Teil gut spielbar, die ersten drei waren Schrott.

Die Handlung der meisten Spiele stand auf der Packung oder einem lieblosen Textbildschirm. Unter DOS konnte man das Pech haben, immer wieder neu zu booten, weil die Spiele unterschiedliche Treiber, Speicher und was noch alles brauchten. Bei jedem Spiel musste neu konfiguriert werden. Soundkarte, IRQ, DMA, LMAA! DOSBox macht es einem heute relativ leicht. Wenn man sich ein wenig damit befasst, bekommt man eine Konfiguration hin, die gut funktioniert. Wer den richtigen Spaß haben will, soll sich PCem installieren und ein altes DOS aufspielen und einrichten. Stunden später weiß man wenigstens, was man geleistet hat.

Commander Keen

Man muss sich das einmal vorstellen, wenn Smartphones heute so funktionieren würden.

Heute sind die Spiele an einem Account gebunden. Sie sind immer auf dem aktuellsten Stand und werden oft über Jahre vom Entwickler gepflegt. Erinnert sich noch jemand an den Kopierschutz von Monkey Island? Das war eine Drehscheibe, aus Papier. Wenn der Hund beschloss, damit zu spielen oder es aufzufressen, konnte man die Affeninsel vergessen. Das war kein Einzelfall.

Updates gab es nur selten, auf Konsolen nie. Hatte das Spiel ein Problem, oder Sackgassen, was bei Adventures immer wieder der Fall war, hatte man Pech. Heute gibt es in kürzester Zeit Patches. Von den meisten Spielen bekomme ich das nicht mehr mit, weil alles im Hintergrund läuft. Sollte ein Spiel nicht funktionieren, kann ich es i. d. R. sogar binnen einer gewissen Frist zurückgeben. Früher hätte einen der Händler nur ausgelacht.

Heute kann man die alten Spiele relativ bequem genießen. Auf Steam und GOG gibt es zahlreiche Titel für wenig Geld. Die sind vorkonfiguriert. Nur bei komplexen Titeln wird es schwierig, weil eine Karte, oder das hunderte Seiten dicke Handbuch fehlen. Ja, es gibt PDF, aber es macht dennoch mehr Spaß echtes Papier in der Hand zu halten. Mir zumindest.

Monkey Island 1

Die Zukunft von Gestern

Der Raspberry Pi vermittelt heute noch das alte Gefühl. Das Anarchische. Selbst in die tiefsten Ebenen des Systems vordringen zu können. Dieser Einplatinencomputer mit seinen Möglichkeiten heizte den Retro-Boom ordentlich ein. RetroPie ist eines der populärsten Projekte. Ein winziges Stück Hardware, auf dem zahlreiche alte Computer, Konsolen und die dazugehörigen Spiele emuliert werden.

Natürlich ist eine Emulation auf einem 32“-4K-Monitor nicht dasselbe wie die Originalhardware mit einem 14“-Röhrenmonitor, da können noch so viele ausgeklügelte Retro-Shader aktiviert werden. Aber es zeigt dennoch das Beste aus der alten Welt, ohne die Scherereien.

Vor ein paar Jahren waren Nachbauten alter Konsolen modern, vorwiegend von Sega und Nintendo, der C64er war auch dabei, inklusive VC-20 im Gepäck. Da die Originalhardware immer mehr kaputt geht, wird dieser Markt wachsen. Mein Traum wäre ja ein neuer Amiga 1200, aber ich vermute, das kann ich knicken. Für einen einfachen Nachbau war er zu komplex und es gibt wahrscheinlich nicht genug Abnehmer, aber man wird noch träumen dürfen.

Der aktuelle Boom wird abflachen, aber nie enden. Es wird immer genug Menschen geben, die sich damit befassen, sich für die Geschichten interessieren oder die alte Zeit konservieren möchten. Schließlich ist, digital gesehen, Retro so etwas wie das alte Ägypten. Man erforscht alle Aspekte, aber wirft es nicht weg, weil es veraltet ist.

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